Uruguay Montevideo: Leben für den Tango
Bei Tango denken viele sofort an Buenos Aires. Dabei hat die Musik in der Hauptstadt Uruguays ihre Wurzeln. Behaupten zumindest die Einheimischen. Eine Spurensuche.
Die Stadt, die er geliebt hat wie keine andere und die ihn vereinnahmt wie niemanden sonst – sie verschwindet langsam am Horizont. Noch sind sie schemenhaft zu erkennen, die Hochhaustürme am Hafen, hinter denen sich Palermo Viejo verbirgt, die Altstadt mit ihren Tango-Bars. Kaum eine, in der nicht dieses Schild hängt, mit der Inschrift: “Porteños como Carlitos”. Porteños, so nennen sich die Menschen in Buenos Aires. Und Carlitos, das ist Carlos Gardel.
“Porteños como Carlitos” – ganz richtig ist das nicht. Denn ein Porteño war der Mann, der den Tango Canción, den gesungenen Tango, berühmt gemacht hat, eben nicht. Aber damit hören die Gewissheiten über Carlos Gardel auch schon auf. Deshalb geht es mit der Fähre über den Río de la Plata, die Mündung von Río Paraná und Río Uruguay, die eher Meeresbucht ist als Flussdelta. Hinüber nach Montevideo, die Hauptstadt Uruguays. Auf den Spuren von Carlos Gardel und des Tangos.
Uruguay wurde von Menschen aus Galicien besiedelt. Die gelten als besonnen und gelassen
Im Hafen wartet Ramón Larossa, ein kleiner Mann mit weißen Haaren, Schnurrbart und der aufrechten Haltung eines Tänzers. Dass sich die Fähre nahezu geräuschlos leert, jedenfalls ohne die in Buenos Aires üblichen Begrüßungsdramen, das erstaunt ihn nicht: “Uruguay wurde von Menschen aus Galicien besiedelt. Die gelten als ruhig und gelassen, das haben wir wohl von ihnen geerbt. Bei uns geht es beschaulich zu, wir sind nicht laut, wir sprechen mit gedämpfter Stimme. Drüben in Buenos Aires schlägt das heiße italienische Blut durch. Dort ist es molto vivace – sehr lebhaft.”Ramón schlendert vom Hafen Richtung Altstadt. Er ist ein Tanguero im doppelten Sinn: einerseits seit seiner Jugend ein leidenschaftlicher Tänzer, andererseits kennt sich kaum jemand in Uruguay besser in der Geschichte dieser Musik aus. Dass der Tango sich in Buenos Aires entwickelt hat, ist für Ramón Larossa nur eine Legende. In Wahrheit sei es hier geschehen: in der Altstadt von Montevideo, dem ehemaligen Hafenviertel. “Sogar der berühmte argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges hat das zugegeben. Er hat geschrieben, dass der Tango in den Spelunken im Hafenviertel Montevideos entstanden ist.”
Im ehemaligen Hafenviertel säumen einfache Häuser die mit Kopfstein gepflasterten Gassen. Keine Verzierungen, keine Balkone, wie in den Kolonialstädten Südamerikas sonst üblich. Die Fassaden sind brüchig, die einst bunten Farben verblichen und abgeblättert. Ein Arme-Leute-Viertel heute genauso wie Ende des 19. Jahrhunderts, als hier Einwanderer aus Europa auf Afro-Uruguayer trafen, die Nachkommen ehemaliger Sklaven. Aus deren Musik, dem Candombe, hat sich die Milonga entwickelt und daraus wiederum der Tango.
Die Plaza de la Independencia im Zentrum Montevideos. In einem rundum verglasten Gebäude, der Torre Ejecutiva, residiert die Regierung der República Oriental del Uruguay, der Republik östlich des Uruguay, wie das Land offiziell heißt. Die Bezeichnung Torre, Turm, ist übertrieben: Das Gebäude ist gerade mal sechs Stockwerke hoch. Gegenüber ein Hotel. Dort stand einst die Bar La Pasiva, erzählt Ramón, in der Gerardo Matos Rodríguez “La Cumparsita” geschrieben hat, den bis heute bekanntesten Tango.
Als “La Cumparsita” im April 1917 uraufgeführt wurde, war der Tango in Montevideo längst Volksmusik. Anders in Buenos Aires. Dort blieb er die Musik der einfachen Leute und erfasste erst Ende der 1920er-Jahre die Oberschicht – über den Umweg Paris, wo Gardel große Erfolge gefeiert hatte. Für Ramón ein weiteres Indiz, dass Montevideo die wahre Heimat des Tango ist. Und überhaupt Gardel: Laut vorherrschender Meinung wurde der Sänger als Charles Romuald Gardes im Jahr 1890 in Toulouse geboren und kam mit seiner Mutter, der französischen Tänzerin Berta Gardes, im Alter von drei Jahren nach Buenos Aires. Dagegen sprächen viele Indizien, meint Ramón: “Gardel sprach kein Französisch. Das hört man in den Liedern, die er auf Französisch gesungen hat. Seine Aussprache – erbärmlich. Wie kann das sein, wo seine Mutter kaum des Spanischen mächtig war?” Dann das Chalet in Montevideo, eine Villa mit Pool und Tonstudio, die Gardel hinterließ, nachdem er im Jahr 1935 bei einem Flugzeugabsturz in Medellín ums Leben gekommen war – Berta Gardes habe nie Anspruch auf das Anwesen erhoben. Schließlich Gardels Pass. Das Dokument wurde im Flugzeugwrack in Medellín gefunden, war lange in Besitz einer privaten Stiftung und ist heute Teil eines von der Unesco geführten Archivs. Gardes’ Nationalität wird darin mit argentinisch angegeben – klar, der Sänger hatte sich einbürgern lassen. Aber als Geburtsort ist Tacuarembó in Uruguay vermerkt.
Auf der Cinco, der Nationalstraße Nummer 5, fliegt eine flache Weidenlandschaft vorbei. Hier grenzt Estancia an Estancia, ein Landgut ans nächste. Auf den meisten davon wird Vieh gezüchtet. Uruguay hat nur 3,4 Millionen Einwohner, der Rinderbestand ist mit 11,6 Millionen mehr als dreimal so groß. Zwischen den Estancias ein paar Bodegas, Weinkellereien. Hinter Juanicó ändert sich die Landschaft, wird hügeliger und bewaldeter. Leider hat sich auch das Wetter geändert: Es gießt in Strömen. Tacuarembó steht komplett unter Wasser: ein Provinznest mit schmucklosen, meist eingeschossigen Häusern und Straßen, die bei Sonnenschein staubig sein dürften. Ramón biegt von der Cinco ab. Die Straße ist übersät mit Schlaglöchern. Sie windet sich einen Hügel hinauf und endet an einem reißenden Bach. Ramón kratzt sich am Kinn: “Eigentlich ist hier eine Furt.” Also raus aus dem Auto und zu Fuß über eine Hängebrücke, die beängstigend im Wind schaukelt.
Hier sind die Villen nicht von Sicherheitsmauern umgeben, ungewöhnlich für Lateinamerika
“Dieses Tal heißt Valle Edén, der Garten Eden”, erklärt Ramón. Trotz tief hängender Wolken ist der Anblick bezaubernd, auf saftige Weiden und bestellte Felder. Hier soll Gardel nach der uruguayischen Version seine Kindheit verbracht haben – als Sohn von Carlos Escayola, einem Oberst im Ruhestand, und María Lelia Oliva, der minderjährigen Schwester seiner Frau. Dass ein unverheiratetes Mädchen aus bester Familie schwanger wurde, war in der damaligen Gesellschaft nicht akzeptabel. Deshalb sei María Lelia auf das Landgut des Oberst im Valle Edén gebracht worden, um das Kind unbemerkt zur Welt zu bringen. Nach der Geburt wurde der Junge, so geht diese Version weiter, einer Französin übergeben, die in der Gegend lebte, an Berta Gardes. Sie zog mit dem kleinen Carlos nach Montevideo, später ohne ihn nach Frankreich, wo sie selbst einen Sohn bekam, mit dem sie zweieinhalb Jahre später nach Montevideo zurückkehrte.
Eine abenteuerliche Geschichte, für die es keinen wirklichen Beweis gibt. Und die ähnliche viele Ungereimtheiten aufweist, wie die offizielle. Warum hat Berta Gardes den Jungen nicht mit nach Frankreich genommen, wo sie doch dafür bezahlt wurde, für ihn zu sorgen? Warum ist sie nach Montevideo zurückgekehrt? Und vor allem: Was in aller Welt hatte sie nach Tacuarembó verschlagen? Zumindest darauf hat Ramón Larossa eine Antwort: Oberst Escayola war Kunstliebhaber und Mäzen eines Theaters. Dort sei Berta Gardes aufgetreten.
Source: sueddeutsche.de 2018